Denk ich an Deutschland, dann bin ich zwar nicht gerade um den Schlaf gebracht, aber ich denke definitiv eher an Hartz IV und Billigdiscounter als an Geld zum Verheuen. Bin ich in Berlin, dann sehe ich Bettler, so richtige: dreckige, versehrte Menschen, die auf Kartons am Boden sitzen, nicht solche wie bei uns, die eigentlich einfach aussehen wie ich nach Feierabend, und Schlaglöcher in den Strassen und Hartz-IV-Empfänger, die in Billigdiscounter gehen. Ich war gerade in Berlin und sah Bettler und Schlaglöcher und Hartz-IV- Billigdiscounter und dachte: Und ihr müsst Europa retten! Wahnsinn. Deutschland ist ja gerade das Zugpferd Nummer eins in Europa. Der Vorzeigeschüler und Zahlmeister, alles in Personalunion. Deutschland, also Angela Merkel ist gerade voll der Chef von der EU. Natürlich steht Sarkozy bei den Verlautbarungen zur Schuldenkrise auch noch neben ihr und grinst betrunken, auch wenn er nicht betrunken ist, aber die Macht ist mit Merkel. (Wenn man bei Google «Sarkozy» eingibt, dann schlägt es die Zusätze «Baby», «Bruni», «Grösse» und «betrunken» vor. Nuff said.) Ein deutscher Kollege sagte es so: Deutschland habe jetzt doch noch den Zweiten Weltkrieg gewonnen (was er in Deutschland einem Deutschen natürlich nie hätte so sagen können).
Ich fragte in Berlin ein paar deutsche Bekannte, wie sich das denn so anfühlt zu wissen, dass gerade so viel
von Deutschland abhängt. Zum Beispiel einen Fotografen. Er sagte: Europa? Deutschland? Was? Interessiert mich nicht! Ich bin ja auch erst seit kurzem Deutscher. Hab den israelischen Pass abgegeben. Seither hab ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich nach Israel reise! Aber ist schon ganz praktisch, so ein EU-Pass. Wie war die Frage? Ich sagte: Schuldenkrise, Deutschland rettet zum Beispiel Griechenland? Er sagte: Interessiert mich nicht! Keine Ahnung! Obwohl, doch: Als ich letztes Mal beim Griechen was zu Essen holte, war das Lokal voll! Sonst immer leer! Ha! Ha!
Dann traf ich einen Verleger, im Restaurant Borchardt, Berlins Kunstkulturintelligenzijaschickimickikantine. Dort wurde wie immer Champagner getrunken und Wiener Schnitzel gegessen, die so gross sind, dass der Kartoffelsalat halt darunter Platz finden muss, wie immer, wie wenn nichts
wäre. Ist denn nichts? Ich beschloss, etwas pointierter zu
fragen: Hurra, endlich vom hässlichen Deutschen zum guten Deutschen? Der Mann sagte, zusammengefasst: von wegen Beliebtheit, in Griechenland rennen sie mit Merkel-Nazipostern rum; ist nur fair, wenn Deutschland aushilft, schliesslich hat es enorm profitiert vom Euro; Deutsche, die sich abgezockt fühlen, haben die Zusammenhänge nicht verstanden, und überhaupt glaube er, das Bild vom Deutschen im Ausland sei momentan mehr das des schlecht gelaunten, motzigen, besserwisserischen, verkniffenen Sparers, der dann halt doch widerwillig zahlt, einfach, weil er kann. «Also eigentlich entspricht das ziemlich genau der Karikatur, die Hitler vom Juden gezeichnet hat», sagte er und amüsierte sich.
Unterwegs fragte ich den Taxifahrer: Beschäftigt euch das überhaupt? Europas Schuldenkrise, Deutschlands Rolle, macht ihr euch Sorgen? Nee, sagte er. Ist so kompliziert, dass man lieber gleich ganz abschaltet. Wird schon werden. Womit wir wieder bei Heines «Nachtgedanken» wären: Deutschland hat ewigen Bestand/Es ist ein kerngesundes Land.
Das Phänomen kennt jeder: Wir gehen in die Küche und wollen etwas erledigen; doch kaum sind wir in der Küche drin, wissen wir nicht mehr, was es war. US-Forscher konnten nun in Experimenten belegen, dass es tatsächlich das Durchqueren der Tür ist, das unserem Gehirn den Impuls fürs Vergessen gibt. Sie liessen 60 Probanden Gedächtnisaufgaben in einem Raum oder in verschiedenen Räumen lösen. Ergebnis: wenn die Teilnehmer eine Tür durchquert hatten, schlossen sie im Test schlechter ab.
SonntagsZeitung/Zürich